Mondnächte sind bei Schnee besonders zauberhaft. Wie eine stille Märchenwelt glitzert die Landschaft, die Bäume strecken ihre Schatten wie Finger aus. Ich wollte unbedingt den Vollmond über dem Steinernen Meer aufgehen sehen, doch habe ich im Moment keine Chance, da hinzukommen. Zuviel Schnee und wie ich am Samstag vom Seehorn aus sehen konnte, noch keine feste Spur, die das Vorwärtskommen erleichtern würde. Ich gebe solche Vorhaben jedoch nie so ohne weiteres auf und überlegte hin und her. Da ich im Skifahren leider kein Held bin – ich komme zwar überall rauf, aber wahrscheinlich nicht in einem Stück runter – bleiben mir für Wintertouren nur Schneeschuhe, mit denen man in der Reichweite deutlich eingeschränkt ist. Meine Zwischenidee, übers Seehorn, die Hochwiese und die Hundstodreiße zum Ingolstädterhaus zu gehen, verwarf ich wieder – ist ne ganz schöne Strecke und ich wollte unbedingt vermeiden, dass der Mond ohne mich aufgehen würde, während ich mich die Reiße hochkämpfte. Also kürzte ich den Plan und beschloss, den Vollmond vom Seehorn aus zu beobachten.
Für die Straße nach Pürzelbach braucht man Schneeketten. Sowas hatte ich nicht, traute mich aber auch nicht ohne – die Straße ist steil und schmal, und wenn ich da aus irgendeinem Grund hängenbleiben würde – nein danke. Was solche Geschichten betrifft, habe ich inzwischen was dazu gelernt. Also holte ich am Vortag Schneeketten aus dem Baumarkt – bewaffnet mit dem Fahrzeugschein, den ich mit dem abgeglichen hatte, was auf den Reifen stand. Ein Verkäufer suchte mir ein passendes Modell raus und ich fuhr damit zu Bekannten, um mir zeigen zu lassen, wie ich die Dinger auf’s Rad kriege. Der männliche Teil der Familie bekam es nicht hin. Hm. Also fuhr ich zur Tankstelle, doch auch dort konnte mir keiner weiterhelfen. Auch mein Nachbar schaffte es nicht und ich verdrehte innerlich schon die Augen und dachte „muss man denn als Frau alles selber machen…?“, doch stellte er dann fest, dass die Dinger eine ganze Nummer zu klein waren – der Felgendurchmesser stimmte nicht. Toll. Inzwischen hatte der Baumarkt schon zu. Und ich wollte doch am nächsten Tag gleich früh morgens starten! Ich rauchte vor Ärger, doch half alles Fluchen nichts – ich musste erst die Dinger umtauschen, bevor ich losfahren konnte. Ich schaute mir noch im Internet an, wie ich beim Anlegen vorgehen musste und packte meinen Rucksack. Es würde kalt werden da oben am Gipfel, also packte ich mehrere Jacken ein, ein Paar Fingerhandschuhe für unterwegs und ein paar spezielle Fäustlinge fürs Fotografieren. Und natürlich Kamera, Stirnlampe, Stativ.
Am nächsten Morgen versetzte mich die ungetrübt strahlende Morgensonne derart in Vorfreude, dass ich im Baumarkt den Verkäufer am Leben ließ und mit den passenden Schneeketten an Bord nach St. Martin bei Lofer fuhr. Problemlos legte ich die Ketten an und rumpelte über die schneebedeckte Fahrbahn nach Pürzelbach. Hohe Wälle säumten die Straße, das sah schon beeindruckend aus. Ich denke, die Bauersleute da oben haben winters eine gewisse Menge an Vorräten immer im Haus…
Der Wanderparkplatz ist natürlich nicht freigeräumt, aber es gab eine winzige Bucht, in welche ich mein Auto bugsierte, dann stiefelte ich los. Gleich am Anfang quert man einen steilen Wiesenhang, der kurz vor dem Wald einen guten Teil seiner Schneefracht nach unten geschickt hat. An einer Stelle hing noch einiges hoch oben und ich querte diesen Lawinenstrich zügig. Eine breite, gut gefestigte Spur folgt der Forststraße zu den Kallbrunnalmen, doch ging ich lieber den Wanderweg, auch wenn das etwas mühsamer war.
Die Almhütten sind fast komplett unter dem Schnee verschwunden. Teilweise schauen nur noch die Schornsteine heraus und die Wechten auf den Dächern sind enorm. Alle Konturen sind weich, die ganze Landschaft ein ungestörtes Weiß. Ich tummelte mich da fasziniert eine ganze Weile mit der Kamera, dann stapfte ich weiter. Am Seehorn sah ich zwei Grüppchen beim Aufstieg, schon ziemlich weit oben. Als ich mich dem Wald näherte, begrüßte mich ein Konzert frühlingsfroher Bergfinken. Das war ein Gezwitscher in allen Ästen! Entzückend.
Ich folgte der Aufstiegsspur in Serpentinen durch den Wald und hinaus auf die Hochfläche, die schon ganz zerfurcht war von den Tourenskifahrern. Ich finde die rasanten Kurven im Schnee immer höchst malerisch. Auf einem flachen Geländevorsprung machte ich ein kleines Päuschen, mein Magen wollte was. Herrlich, sich in der Sonne zu räkeln – welche Aussicht! Ein paar Skifahrer kamen von oben herunter gerauscht, ich schaute ihren eleganten Schwüngen zu, dann waren sie auch schon weg. Ich setzte meinen Aufstieg fort und kam zu dem Absatz am Hang, der den ahnungslosen Bergsteiger denken lässt, er habe den Gipfel schon bald erreicht, nur um ihm oberhalb eine weitere schier endlose Aufstiegsfläche zu präsentieren. Ich ließ mir Zeit. Bis zum Sonnenunter- und Mondaufgang waren es noch einige Stunden, wozu also eilen. Ich blieb öfters stehen und genoss den Rundumblick in die Berge. Leider war es an diesem Tag nicht mehr so klar wie an den vorhergehenden Tagen, Dunst verschleierte die Fernsicht. Weiter oben wehte ein kaltes Windchen, welches richtig eisig-unangenehm wurde, als ich den Gipfel erreichte. Ich hatte das schon geahnt, denn ich hatte ein paar Skifahrer bis zur Nasenspitze eingemummt herumsitzen sehen. Ich hatte noch zwei und eine dreiviertel Stunde bis zum Mondaufgang. So lange würde ich es in dem arktischen Wind nie aushalten. Hm. Der kam aus Nordwest – keine Chance auf einen Windschutz. Ich stieg erstmal ein paar Meter wieder ab, weiter unten war der Wind wenigstens nicht so stark. Ich begann, mir in dem windverpressten Schnee ein ebenes Plätzchen zum Sitzen zu kratzen. Ich trat ihn mit den Schuhen weg und er löste sich in Brocken. Da kam mir eine Idee. Warum nicht größere Brocken heraus lösen und einen Windschutz bauen? Ich platzierte meine Ausrüstung abrutschsicher im Schnee, holte mein Opinel-Messer heraus und begann, Quader aus dem Schnee zu schneiden. Die Klinge ist nicht gerade super lang, doch klappte es erstaunlich gut und ich setzte Quader neben und schließlich über Quader. An dieser Stelle muss ich nun dieses mein Opinel-Messer mal lobend beschreiben: Es ist super leicht, sehr scharf (bei richtiger Pflege bleibt es das auch), hat einen sehr einfachen aber wirkungsvollen Ent- und Verriegelungsmechanismus und kostet nur knapp 15 Euro. Es hat mich auf unzähligen Touren begleitet und von der Brotzeit bis zum eingerissenen Fingernagel bisher alles geschnitten…
Ich werkelte so ein gutes Stünderl im Sonnenschein vor mich hin. Es machte total Spaß und erinnerte mich an all die Schneeburgen meiner Kindheit – da hatte ich damals doch was für’s Leben gelernt…
Nach vollendetem Werk – dadurch, dass ich die Quader aus dem Hang geschnitten hatte, hatte ich gleichzeitig einen ebenen Boden bekommen – brezelte ich mich wunderbar windgeschützt in die Sonne und genoss aus vollem Herzen ebendiese, das Panorama und einen Krapfen. Der war bisschen zerdrückt, was dem Geschmack allerdings keinerlei Abbruch tat. Es lebe das Leben!
Ein halbes Stündchen vor dem Monderwachen packte ich zusammen und stieg wieder auf den Gipfel – das Sönnchen war da schon recht dünn geworden. Oben zog ich zuerst mal alle fünf Jacken an, die ich dabei hatte: Zuunterst eine hauchdünne aber winddichte, darüber eine sehr dünne Primaloft, darüber eine weitere Primaloft, darüber eine Daunenjacke und darüber – ich kam mir vor wie das Michelin-Männchen – noch meine Regenjacke gegen den Wind. Auf den Kopf setzte ich die Mütze und alle vorhandenen Kapuzen. Auf meinen Fleecepullover hatte ich am Solarplexus einen Bodywarmer aus Aktivkohle geklebt, ebenso in meine Fausthandschuhe. Ich friere halt schnell…
Ich stellte das Stativ auf, das in dem festen Schnee super Halt fand, und montierte die Kamera. Dabei gab ich gut Acht, nicht auf die überhängende Wechte hinaus zu treten. Im Westen sank die Sonne ihrem Untergang entgegen. Ich überlegte, dass der Mond wahrscheinlich hinter dem Großen Hundstod aufgehen würde – hm. Ließ sich nicht ändern, aber dann wäre er schon nicht mehr so groß und recht hoch am Himmel, wenn er erschiene. Nunja. Erstmal schaute ich der Sonne beim Versinken zu, beobachtete den Wechsel des Lichts auf den umliegenden Bergen. Über dem Watzmann schwebte ein kleines Wölkchen, noch von der Sonne angeleuchtet, wie ein Krönchen. Hübsch. Im Hintergrund, fahl im zunehmenden Dunst, thronte der Untersberg. Das Licht auf den umliegenden Bergen bekam ein warmes Orange, die Schatten wurden tiefer. Dann war die Sonne verschwunden und auch der letzte Widerschein ihrer Farben verblasste auf den schneebedeckten Gipfeln.
Und da sah ich mit einemmal, wie sich eine zarte orangegelbe Kugel aus dem Abenddunst über dem Schneibstein erhob – der Mond. Ein ganzes Stück weiter links, als ich gedacht hatte, genau zwischen Watzmann und Großem Hundstod. Es hatte sich inzwischen eine Wolkenfront genähert, die ihre Finger ausstreckte und den Mond immer wieder verdeckte. Doch war es recht spannend, wie der immer wieder aus den Wolken auftauchte und diese beleuchtete. Im Tal glitzerten die Lichter von Saalfelden. In den Skigebieten krochen Pistenraupen auf den Gipfeln herum, das sah aus wie eine Invasion von Aliens. Ich fotografierte mit verschiedenen Einstellungen, klopfte mir zwischendurch die Beine warm – die hatten leider nur zwei Kleidungsschichten und der Wind nahm an Eisigkeit noch zu.
Als der Mond höher stieg, wurde sein Licht stärker. Die Landschaft bekam einen besonderen Glanz, silbern funkelte der Schnee um mich herum. Ich stand auf dem Gipfel des Seehorns, im eisigen Wind, alleine, weit und breit niemand, tief unter mir die Lichter der Stadt, um mich herum die Gipfel der Berge, und alles erstrahlte im geheimnisvollen Licht des Vollmondes. Dieses Erlebnis ist mit Worten nicht zu beschreiben.
Ich blieb eineinhalb Stunden am Gipfel, dann wurde es mir zu kalt. Ich hatte warten wollen, bis der Mond hoch genug stehen würde, um meinen Abstieg zu beleuchten, aber das war unmöglich – der Gute war zu langsam, da würde ich in der Zwischenzeit zum Eiszapfen erstarren. Also setzte ich meine Stirnlampe auf, verpackte mit klammen Fingern das Stativ und die Kamera und machte mich um kurz nach 19 Uhr an den Abstieg. Hier musste ich mich sehr konzentrieren, um meine Aufstiegsspur nicht zu verlieren. Ich konnte beim etwas mageren Licht der Stirnlampe nicht sehr weit sehen und Geländeformen somit nicht sonderlich gut erkennen, so dass ich mich an meine Spur halten wollte. Das ging auch ganz gut, nur hatte ich dabei keine Möglichkeit, in die Landschaft zu schauen, was ein bisschen schade war. Die Geländestufe zwischen oberem und unterem Hang war eher etwas heikel – die Spur sowieso sehr schmal und jetzt auch noch verharscht. Abrutschen wäre fatal gewesen, also setzte ich jeden Schritt mit Bedacht und Konzentration. Danach ging es wieder leichter und ich kam flott voran. Mir war ganz schön warm – weiter unten war der Wind längst nicht so stark und ich hatte immernoch fünf Jacken an, einen Fleecepullover, ein Sportshirt und den Bodywarmer. Puh. Ich kam in den nachtstillen Wald und endlich wieder ins Mondlicht. Ich schaltete die Stirnlampe aus und folgte den Serpentinen durch die Waldschatten nach unten. Dort warfen ein paar solitär stehende Fichten derart zauberhafte Schatten, dass ich tatsächlich das Stativ nochmal auspackte und ein paar Fotos machte.
Ich hatte Durst und trank von meinem restlichen Saft-Wasser-Gemisch – das war in der Flasche zu Halbgefrorenem geworden. Ich zog ein paar meiner Schichten aus und setzte meinen Weg fort zu den Kallbrunnalmen. Als ich dort ankam, sah ich auf die Uhr – es war erst 20.39 Uhr. Im Schnee kommt man bergab doch auch mit Schneeschuhen ganz flott voran.
Leider waren die Wolken inzwischen in der Überzahl und obwohl der Mond sich weiterhin tapfer anstrengte, wurde sein Licht nun doch etwas müde. Hier unten ließ sich der Weg aber auch so ganz gut finden. Ich stapfte an den unter ihren Schneemützen schlafenden Almhütten vorbei und über den Wanderweg durch den Wald. Ich kam zum Lawinenstrich oberhalb von Pürzelbach und überquerte ihn zügig. Die hängenden Schneemassen sahen auch im nächtlichen Licht nicht eben vertrauenerweckend aus. Ich folgte der Forststraße bis Pürzelbach und war froh, als ich gegen 21.30 Uhr das Auto erreichte – und gleichzeitig wehmütig, weil diese wunderbare Moonlight-Tour zuende war. Die Zeit in den Bergen ist stets zu kurz.