Wo die Freiheit am größten ist…

Zwischen Watzmannscharte und Watzmannlabl, mit Blick auf Bartholomä und das Hagengebirge

me and eternity

…sind meist die wenigsten Menschen. Und das Watzmannlabl ist durchaus ein menschenferner Ort – mit einer unvergleichlichen Aussicht auf den Königssee und St. Bartholomä. Da wollte ich schon lange mal hin.

Für Samstag war der heißeste Tag dieses Sommers gemeldet – da ist See gut oder luftige Bergeshöhe, und so verabredete ich mich mit Rainer, der das Labl gut kennt, schon für zeitig frühmorgens. Leider ging etwas Zeit verloren, als er am Chiemsee im Unfallstau stand, und so war der Parkplatz Hammerstiel bei Hinterschönau schon gut gefüllt, als wir ankamen. Wir fanden aber noch Platz, hievten die Rucksäcke auf die Schultern und marschierten los. Anfangs hatten wir so einiges Volk um uns und vor uns und erstaunliche viele (E-)Biker kamen schon von oben zurück. Das flaute aber ab, sobald wir an der Schapbachalm vorbei waren und bei der sogenannten „Benzinkurve“ die Forststraße verließen. (Zu dieser gibt es eine nette Anekdote: Anfang Februar musste die Polizei Berchtesgaden ausrücken, weil 5 Koreanerinnen die vereiste – und gesperrte – Straße zum in ihrem Navi angegebenen „Königssee Overview“ hinauffahren wollten – und irgendwann nicht mehr weiter kamen. In ihrer Hilflosigkeit riefen sie das koreanische Konsulat an, dieses die Bundespolizei und diese informierte wiederum die Berchtesgadener Polizei und die hatten das Vergnügen, die Damen rückwärts runter zu lotsen…) Über schattige Waldwege stiegen wir hinauf ins Watzmannkar. Der Steig führt am Fuß der Westwand der Watzmannfrau entlang, mit einem beeindruckenden Blick durch das Kar auf das vierte Kind und die Ostwand dahinter. Dieses Gelände kannte ich bislang nur im Winter, wo alles Geröll schön mit einem dicken Schneeteppich geebnet ist. Im Sommer ist die Kletterei eine ganz andere. Zu faul, die Stöcke zu aktivieren, die ich am Rucksack befestigt dabei hatte, mühte ich mich über rutschiges Geröll hinter Rainer steil hinauf in Richtung erstes Kind. Auf dem dritten Kind und dessen Zustieg tummelten sich so einige Bergwanderer, doch hinter uns kamen nur zwei junge Frauen, vor uns waren drei Jungs und sonst niemand. Aus dem Kar hinauf zum Grat muss man ein bisschen Hand anlegen, es ist eine unschwierige Genusskletterei. Allerdings muss man darauf achten, nicht die recht verlockend wirkende tiefste Stelle der Scharte anzusteuern, sondern brav weiter rechts den Steindauben folgen.

Oben angekommen ließen wir uns auf einem Wiesenplätzchen erstmal zur Brotzeit nieder. Ein türkisblaues Stückchen Königssee schaute von weit unten durch eine breite Rinne zwischen Watzmannfrau und Lablkopf. Die beiden jungen Frauen verschwanden zwischen den Felsbrocken hinunter in Richtung Lablkopfscharte, die drei jungen Burschen turnten munter ein ganzes Stück voraus auf dem grasigen Südwestgrat der Watzmannfrau hinauf in Richtung Kriechband. Dieses stellt den einzig möglichen Durchgang durch einen mächtigen Riegel dar. Wir indessen machten es uns bequem, langten tüchtig zu und verfolgten das Geschehen mit dem Fernglas. Wie im Kino, aber live dabei. Die Jungs waren guter Dinge, das hörte man am Tonfall, wenn sie sich was zuriefen, und sie hatten ein respektables Tempo drauf. Allerdings blieb der im Vorstieg viel zu weit links und kam zu weit nach oben, um das Kriechband erreichen zu können, das wunderte uns – kannten die sich nicht aus? Dann könnte es heikel werden. Der Erste blieb stehen, während der Zweite unterhalb nun doch korrekt in Richtung Kriechband querte. Doch dort drehte er nach einer zögerlichen Minute wieder um. Hm. Der Einstieg aufs Kriechband ist von einem Felsbrocken blockiert, um den man mutig außen herum muss, ziemlich ausgesetzte Geschichte. Vielleicht erkannte der Knabe deshalb den Einstieg nicht als solchen. Jedenfalls kletterte er nun den andern beiden hinterher, die weiter nach oben stiegen. Wir waren jetzt ganz bei der Sache. Nach oben gibt es kein Entrinnen – die Wand wird immer steiler, der Riegel überhängend und passierbar nur mit Flügeln. Die Burschen kamen an ein zweites Band mit Spalte, parallel zum Kriechband und diesem nicht unähnlich. Der erste, ich nenne ihn den Roten – er hatte ein rotes T-Shirt an, gut zu sehen – nahm den Rucksack ab und stieg in den Spalt. Der Dritte filmte mit dem Handy (man erkennt diese Handhaltung auch aus der Entfernung). Wir warteten darauf, dass der Rote seinen Irrtum erkennen und zurückkrauchen würde, doch er schob sich unverdrossen weiter. Wir hörten sogar ein „Geil hier!!“ und er winkte begeistert aus dem Spalt heraus zu seinem filmenden Kameraden. Nun nahm auch der Zweite den Rucksack herunter und kroch in die Ritze, schließlich folgte auch der Dritte. Am oberen Ende dieser Spalte wird’s eng – da macht sich ein Felsblock breit. Wir waren gespannt und nicht ganz ohne Sorge, was auf diese Entdeckung folgen würde. Wir mussten nicht lange warten. Der Rote hatte den Felsblock erreicht und begutachtete ihn. Dann machte er sich ohne Zögern daran, außen herum zu turnen, unter sich leere Luft. Kühner Bursche – und gottseidank nicht mein Sohn. (Der macht einfach nur Bergtouren mit seinen Kumpels – aber das erzählen die Drei ihren Müttern vermutlich auch) Er schaffte es, richtete sich dahinter im immernoch sehr ausgesetzten Gelände entspannt auf, ging ein paar Schritte, legte seinen Rucksack ab und ging dann zurück und angelte um den Felsblock herum nach dem Rucksack des Zweiten, den dieser ihm hinhielt. Der Zweite ließ sich deutlich mehr Zeit, kroch etwas verklemmter um den Block – wen wundert’s – und schließlich folgte der Dritte. Locker und zügig durchstiegen sie anschließend das steile Schrofengelände in Richtung Gipfel. Wir atmeten auf  – oder aus – und waren voll Hochachtung vor der lässigen Selbstverständlichkeit, mit der diese drei coolen Burschen eine neue Route gegangen waren – vielleicht sogar, ohne es zu merken…

Wir hatten bei aller Spannung das Essen nicht vernachlässigt und so packten wir satt und ausgeruht unsere Sachen zusammen für den Abstieg zum Watzmannlabl. Ein Spaziergang nur, nicht der Rede wert, das war uns nun klar…
Der Spaziergang führte durch grobes Geröll und über Felsstufen hinunter nach rechts zur Scharte am Lablkopf. Das Lüftchen, das uns oben während der Live-View-Rast so schön umfächelt hatte, gab es hier unten nicht und die Sonne brutzelte uns ziemlich. Auf die Scharte folgte eine steile Rinne und ein erster herrlicher Panoramablick auf den hinteren Teil des Königssees mit Obersee. Die Rinne möchte einen verleiten, ihr einfach immer weiter zu folgen, doch sollte man dieser Verlockung besser nicht nachgeben, denn sie führt in Absturzgelände. Man muss sie an einem markanten Geländevorsprung nach links verlassen, da gibt es auch eine Steindaube. Dieser Geländevorsprung nun war der perfekte Vordergrund-Standort und ich dirigierte Rainer dorthin und fotografierte. Ein kleiner Mensch umringt von mächtigen Gipfeln. Viel Ruhe lag in diesem Bild, wie überhaupt in dieser ganzen Landschaft. Ich folgte ihm zu diesem kleinen Absatz und sah nun das Watzmannlabl weit unten liegen und, noch viel tiefer, die Halbinsel Bartholomä. Die beiden jungen Frauen waren auf dem Labl gerade im Aufbruch von ihrer Rast begriffen. Schöner und mächtiger konnte das Panorama nicht werden, und so beschlossen wir einstimmig, ein Weilchen dort zu bleiben. Aus dem Weilchen wurden fast drei Stunden, die vergingen, ohne dass wir es recht bemerkten. Wir schauten, redeten, schauten, und schwiegen, und wurden nicht satt.

Ich schaute mit dem Fernglas in die Runde der Gipfel und Almen, Erinnerungen an frühere Bergtouren tauchten auf.
Ein Hubschraubereinsatz ließ einen Bergretter am Tau über den See fliegen. Das muss wirklich ein spezielles Erlebnis sein, ich schwanke bei der Vorstellung stets zwischen Neid und Gruseln.
Unter uns lag St. Bartholomä in der Nachmittagssonne. Rosa Klopse schaukelten am Ufer im seichten Wasser – Touristen beim Baden.
So ein Fernglas ist eine feine Sache.
Etwas seufzend erhoben wir uns schließlich, streckten träge die Glieder, packten unsere Siebensachen und rissen uns von dem einzigartigen Panorama los. Zum Labl, das von dort schon fast zum Greifen nahe scheint, geht es steil bergab durch Schrofengelände mit sehr langem Gras, so dass man schon schauen muss, wo man die Füße hinsetzt. Hier hat man nun die nächste Gelegenheit, sich im Gelände zu vertun, denn es sieht so aus, als könnte man schnurstracks zum Labl absteigen. Dem ist aber nicht so, auch der Alpenvereinsführer warnt, dass sich unterhalb der Latschen, die vor dem Labl einen Gürtel bilden, ein Absatz befindet. Man muss sich weit links halten, wo es eine gangbare Rinne gibt. Dies taten wir, Rainer war ja auch nicht das erstemal hier und hatte die Nase vorn.

Schließlich standen wir im hohen Gras des Watzmannlabls, wir verschwanden sozusagen fast darin. Links daneben – also, von oben gesehen – schließt sich eine Schotterreiße an, über die wir rutschten und schlitterten. Hätten wir auch einfacher haben können, denn drüben stellten wir fest, dass das Pfädchen zum Rinnkendlsteig ganz unten beginnt, wir hätten also viel bequemer auf der Wiese absteigen können. Na, egal. Wir hatten jedenfalls den Steiganfang gefunden und folgten ihm durch Rinnen, kleine Grasflächen und Latschendickichte. War offensichtlich schon länger her, dass die Latschen mal zurückgeschnitten worden waren, wir rauschten ziemlich durch die reingewachsenen Äste. Ein Stück vom Labl entfernt an einem Felsen stießen wir auf die Kassette mit Watzmannlabl-Buch. Von Oktober 2001 und noch gut Platz drin, heute waren vor uns nur zwei Einträge – die zwei Mädels und vorher zwei Männer. Bei diesem perfekten Bergwetter. Ist wirklich eine einsame Gegend.

Wir schlängelten uns mit dem Pfädchen die Bergflanke entlang nach unten. Ich hätte alle drei Schritte stehenbleiben können, um zu schauen und zu fotografieren. Die letzten Fahrgastboote hatten den See verlassen und er lag still im Abenddunst, die Berge spiegelten sich matt darin.

Schließlich kam mir das Gelände bekannt vor – wir waren direkt oberhalb des Rinnkendlsteigs. Schade, der Abstieg war wunderschön gewesen. Doch meine Knie spürte ich inzwischen auch. Der Pfad trifft direkt an dessen schönster Stelle auf den Rinnkendlsteig, ich hätte es schade gefunden, diese zu verpassen. Einige abgestorbene Lärchen stehen astlos im Steilhang und tragen zu der besonderen Atmosphäre bei. Vermutlich sind sie die letzten Relikte eines Brandes, ausgelöst durch das Lagerfeuer von Biwakierern im letzten Jahrhundert. Dieser Brand fegte den gesamten Bergwald an der Steilflanke hinweg – Rainer weiß sowas, der ist ein wandelndes Lexikon. Auch wenn ich irgendwelche Zahlen wissen möchte – Gipfelhöhen, Jahreszahlen, sonstige – schlage ich lieber in seinem Gedächtnis nach als in meinem, das ist wesentlich erfolgversprechender (der Brand war 1947).

Wir folgten dem Rinnkendlsteig hinauf zur Archenkanzel und gönnten uns den kurzen Abstecher zum Aussichtspunkt. Dort ließen wir uns auf der Bank nieder, um noch ein letztes Mal den langen Blick über den See in uns einzusaugen, perfekt ergänzt von Schokokeksen aus meinem Rucksack. Es wurde bereits etwas duster, wir klopften die Kekskrümel herunter und machten uns auf den Weg nach Kühroint. Unsere Beine fanden es ganz schön, mal eben dahinzugehen, sie hatten nach der letzten Pause eine gewisse Schwere. Schon von weitem hörten wir das Konzert der Kuhglocken. Hübsch. Doch noch im Wald oberhalb der Alm hörten wir fernes Donnergrollen. Das gefiel mir jetzt weniger, denn seit einem einschlägigen Erlebnis in meiner Jugend bin ich nicht mehr scharf auf Gewitter in den Bergen. Außerdem waren Gewitter erst für später gemeldet, das war jetzt nicht fair. Wir kamen auf die Almwiese. An der Alpenvereinshütte war mächtig was los, Familien mit Kindern, eine ganze Menge Radfahrer, von denen sich einige eilig auf den Weg machten. Im Westen hing eine dicke schwarze Wand und wetterleuchtete kräftig. Uhh. Rainer meinte beruhigend, das sei weit weg und käme vielleicht gar nicht. Das überzeugte mich nicht – aber was half’s? Wir mussten ja doch irgendwie runter zum Auto. Also beschleunigten wir die müden Beine, querten die Almwiese und fädelten in den Wanderweg ein. Zumindest bis zur Schapbachalm würden wir es wohl schaffen, und dort könnte man sich unters Dach an die Hüttenwand quetschen, falls es so richtig goss.
Das Wetterleuchten nahm zu. Zum Glück war der Weg einfach und übersichtlich, so dass wir zügig gehen konnten. Es wurde rasch dunkler. Eine Taschenlampe brauchten wir allerdings nicht, denn das Wetterleuchten war so gewaltig und folgte fast sekündlich so rasch aufeinander, dass wir den Weg und die querverlaufenden Wasserrinnen gut sehen konnten. Ab und zu jagte ein Blitz wilde Feuerstöße über den Himmel, polterte mächtiger Donner hinterher, dass ich meinte, den Boden beben zu spüren – doch mit etwas zeitlichem Abstand. Von hinten kam ein VW-Bus des Alpenvereins, die brachten ihre Leute runter. Bisschen sehnsüchtig schaute ich ihm hinterher. Das Unheil war näher gekommen, die Wohlfühl-Entfernung allmählich unterschritten. Wir passierten die Schapbachalm. Erste Tropfen fielen in Ergänzung der wilden Lichtershow. Ein Geländewagen hielt neben uns, eine freundliche Einheimische fragte, ob wir „zur Wimbachbruckn oder Hammerstiel“ wollten? „Hammerstiel…“ Dann leider nicht. Wär ja auch zu schön gewesen. Wir bogen von der Schapbachstraße ab. Der Regen nahm zu. Wir schwitzten wie die Schweine, behielten unser strammes Tempo bei. Mein entschlossener Schritt wurde mit jedem kräftigen Blitz eher noch strammer. Schließlich mussten wir stehenbleiben, um den Regenschutz über die Rucksäcke und die darin verstauten Kameras zu ziehen. Ich holte nun doch mein Handy heraus, um diese dämliche Hülle, die sich auch noch sträubte, über alle Kanten zu bekommen. Blitz – Donnerkrachen – ich zog die Luft ein. Es war noch nicht über uns. Wir fielen in Trab, immer schön leicht bergab. Was kann man sich auch mehr wünschen, als eine lange Tour mit einem Endspurt zu beschließen? Plötzlich wurde es blendend hell. Vor uns zuckte ein gewaltiger Blitz quer über den Himmel, verzweigte sich, zuckte weiter, oder vielleicht waren es mehrere gleichzeitig, wir sahen ja nur einen Ausschnitt zwischen den Bäumen. Es sah aus, als würde dieser Blitz kein Ende nehmen, es war gewaltig. Beängstigend, und gleichzeitig atemberaubend schön. Mächtig.
Eine Art Urknall folgte. Ich war kurz der Panik nahe, fühlte mich in das Trauma meines damaligen Erlebnisses zurückgeworfen – doch dieses Gewitter hier war immernoch ein Stück entfernt und ich war mitten im Wald, nicht auf einer freien Hochfläche. Wir waren wie angewurzelt stehen geblieben und ich hatte meine Fingerspuren in Rainers Arm hinterlassen, doch nun trabten wir weiter, die Begeisterung über diesen Anblick ließ mich die Angst vergessen.

Kurz vor dem Parkplatz konnte ich nicht mehr. Das war jetzt eh schon wurscht, es sah nicht so aus, als würden wir auf den letzten hundert Metern noch vom Blitz erschlagen und nass waren wir von innen und außen gleichermaßen. Letzte Kurve vor dem Parkplatz, wir kamen aus dem Wald – und da sahen wir schräg vor uns noch so einen gewaltigen Blitzstrahl. Quer über den Himmel zuckte er, schoss blendend weiß nach unten und genau in ein Haus auf einer Anhöhe. Für einen Moment schien es zu erglühen, leuchtete orange auf. Ein weiterer Urknall folgte. Wir waren sprachlos im Angesicht dieses einzigartigen Erlebnisses, dann überschlugen wir uns gegenseitig mit Worten: „Wahnsinn! Hast du…?“ „Sowas hab ich noch nie…!“

Als wir zum Auto kamen, ließen sowohl die Lichtershow als auch der Regen deutlich nach, war ja klar. Das war unser Showdown gewesen – und was für einer! Das Gewitter war auf der ganzen Heimfahrt Thema. Vor diesem unglaublichen Erlebnis verblasste fast die wunderbare Schönheit der Tour, doch jetzt im Nachhinein verbindet sich beides in der Erinnerung zu einem fantastischen Ganzen.