No moon, no shine – Mission impossible

Praghorn im Sonnenuntergang

Praghorn im Sonnenuntergang

Strahlend schönes Wetter, der März-Vollmond vor der Tür für DAS Mondfoto. Eine Email zu Erich, dem Hüttenwart des Alpenvereins Ingolstadt – alles frei im Winterlager des Ingolstädter Hauses, außer mir hat sich tatsächlich niemand angemeldet. Na, dann könnte ich ja alle Decken an mich raffen, bestens, ich friere schnell. Und weil ich auf diese Gelegenheit schon so lange gewartet habe, beschließe ich, auch noch eine Runde durchs Steinerne Meer dranzuhängen und eine zweite Nacht oben zu bleiben. Bestens. Ich starte am Donnerstag zeitig nach Pürzelbach, es liegt deutlich weniger Schnee als beim letztenmal, aber der Wanderparkplatz ist natürlich noch nicht frei. Ich finde aber ein schmales Plätzchen für mein Kleines Schwarzes. Die Leoganger Steinberge leuchten in der Sonne in frischem Weiß – es hat ja erst vor ein paar Tagen etwas Neuschnee gegeben. Ich ziehe mir die Schneeschuhe an und lade mir den Rucksack auf den Rücken – reichlich 17 kg, uff. Das bin ich nach dem Winter nicht mehr gewohnt. Ich denke an die Höhlenforscher am Rotwandl, mit denen ich im letzten Sommer unterwegs war – die tragen jedesmal 40kg die Ramseider Scharte rauf. Danke, mir reichen meine 17 Kilo. Warmer Schlafsack, warme Klamotten, Essen für drei Tage, Wasser, Stativ, Teleobjektiv, Kamera – da kommt schnell was zusammen.


Ich folge dem Wanderweg zu den Kallbrunnalmen – und brauche dafür über eine Stunde. Hm. Im Sommer schaffe ich das in der Hälfte der Zeit. Die Landschaft dort sieht immernoch aus, wie einem russischen Wintermärchen entsprungen: Die Hütten versunken im Schnee, die Almwiesen eine wellige weiße Fläche, durchkreuzt von ein paar Skispuren.

Auf dem Seehorn sehe ich ein paar Tourengeher. Zum Stausee hinunter führt eine einzige Spur, sie ist frisch, von heute. Eine Fußspur, von großen Füßen, tief eingesunken, daneben eine Schleifspur – ein Schlitten? Seltsam. Was macht man in dem Gelände mit einem Schlitten? Ich bin neugierig, und als ich zum See komme, sehe ich tatsächlich einen Mann auf der Dammkrone gehen, mit großem Rucksack und bepacktem flachen Schlitten. Auf der anderen Seite hole ich ihn ein, er macht eine Pause. Ich grüße, bekomme eine abweisend kurze Antwort und frage also nicht, was er vorhat. Muss ich ja auch nicht wissen.
Was ich aber schon gerne wissen würde ist, wo der Weg ist. Eine Forststraße führt am See entlang bis zur Materialseilbahn, dieser Straße folgt auch die Skiroute, aber die Straße ist komplett unter dem Schnee verschwunden. Was jetzt nach der Staumauer kommt, ist ein steiler, glatter, schneebedeckter Hang, den es zu queren gilt und der einen aufs Eis oder da hindurch ins Wasser befördert, sollte man abrutschen. Naja, die Krallen unter den Schneeschuhen sind ja schön griffig und ich war in diesem Winter damit schon auf einigen sehr steilen Hängen unterwegs, also mal testen. Der lockere Neuschnee stellt sich aber als äußerst unangenehm heraus – ich muss ganz schön fest hintreten, um richtig Kontakt zur festen Schneedecke darunter zu bekommen, und lasse es langsam angehen. Der schwere Rucksack macht es auch nicht leichter. Ich komme heil hinüber und jetzt geht es etwas einfacher weiter, das muss der Weg sein. Fünfzig Meter weiter ist leider wieder Schluss mit easy und ich mühe mich Schritt für Schritt in Serpentinen ein sehr steiles Stück hoch, halte mich zwischendurch an einer zarten jungen Eiche fest – tschuldigung, Baum – und schnaufe wie ein Walross, als ich oben bin. Puh – dieser Rucksack!! Weiter geht es durch den Wald, ich orientiere mich am Gelände, schaue, wie ich wohl am besten voran komme, der Weg ist IRGENDWO weiter unten, in diesen Schneemengen unauffindbar. Ich steige höher und höher, anders geht es nicht, heikle Geländestufen verhindern ein Wiederabsteigen oder parallel zum Hang Gehen. Macht nichts, abgesehen davon, dass es in dem frischen Schnee und steilen Gelände mörderisch anstrengend ist mit dem Monsterrucksack, ist es landschaftlich äußerst reizvoll. Der Blick auf den See und den Hochkranz wird immer traumhafter. Ich nehme mir Zeit, genau zu schauen, wo ich gehe und was weiter oben – und unter mir – ist. Dreimal rutsche ich ab mit den Schneeschuhen, immer dann, wenn der Neuschnee tief ist und ich irgendwo ein besonders steiles Stück Zwischenabstieg runter muss – rauf ist einfacher – aber zum Glück sind dies jeweils nur kurze Steilstellen. Man kommt mit Schneeschuhen auch in sehr steilem Gelände gut zurecht  – wenn der Schnee fest ist. Hier liegt der Neuschnee aber lose auf dem festen Altschnee, und das macht es so schwierig. Der Rucksack schiebt gewaltig und hat das Zeug, mich aus der Balance zu bringen, doch als die Schneeschuhe mit meinen Füßen unter mir wegrutschen und ich ins Schlittern komme, ist es der Rucksack, der bremst. Diese Erlebnisse lassen mich äußerst vorsichtig gehen und die Route genau aussuchen, und so komme ich nur langsam voran.

Der Blick in die Wände des Seehorns gegenüber ist fantastisch. Es rumpelt dort immer mal, wenn in der warmen Nachmittagssonne eine kleine Lawine abgeht oder Steine sich lösen und hinunter poltern.

Ich bin irgendwann direkt unterhalb des Praghorns, der See weit unten liegt schon ein ganzes Stück zurück. Ich komme zu einem Lawinenstrich, an dem sich die Bergflanke offensichtlich entladen und einiges nach unten geschickt hat. Ich stehe zwischen ein paar vereinzelten Lärchen, vor mir ist der sehr steile breite Abhang, der in gleichmäßiger Neigung nach unten führt, dann kommen wieder Bäume und Felsbrocken und weniger steiles Gelände. Würde ich dort hinkommen, käme ich vermutlich auch weiter bis zum Spitzhörnl und der eigentlichen Skiroute. Das Ingolstädterhaus liegt verlockend in einiger Entfernung im Sonnenschein… Ich habe aber ein sehr ungutes Gefühl, wenn ich die freie Fläche vor mir betrachte – keine Mulde, kein Baum, nichts unterbricht sie – einmal abrutschen und ich würde mich sehr viel weiter unten wiederfinden und das würde nicht gut ausgehen. Mit Skiern wäre das Queren durch den Vorwärtsschub vielleicht möglich – das kann ich nicht beurteilen – aber ich hätte höchstens einen Abwärtsschub… Und so siegt dann doch die Vernunft oder die Angst oder beides – und ich drehe um. Futsch der Plan vom Vollmondfoto, von drei herrlichen Tagen im Steinernen Meer, vom Sonnenaufgang in der winterlichen Bergwelt. Ich folge meiner Spur zurück, gehe an manchen Stellen etwas anders und mache schließlich auf einem breiten, runden Schneerücken mit Mega-Aussicht ein kleines Päuschen.

Beim Weitergehen treffe ich wieder auf meine Aufstiegsspur. Den Gedanken, doch noch irgendwo zum Weg absteigen und diesem folgen zu können, habe ich aufgegeben, das ist chancenlos und ich hätte auch nicht mehr die Kraft, dann wieder hoch und noch bis zum Ingolstädterhaus zu gehen. Als ich schon wieder ein gutes Stück tiefer und ungefähr auf Höhe der Seemitte bin, sehe ich plötzlich den Schlittenmann – er kommt schön vorsichtig den kleinen Steilhang heruntergestiegen, den ich in Schussfahrt genommen hatte. Ich bin ziemlich baff. Auweh – kennt der sich nicht aus und hat sich darauf verlassen, dass ich der Skiroute folge? Den Schlitten hat er jedenfalls nicht dabei, aber ein ähnlich großes Rucksackmonster wie ich auf dem Rücken. Er fragt, ob er da zum Ingolstädterhaus käme und ich erläutere die weglose Schwierigkeit der Route und vor allem betone ich die Gefährlichkeit des Lawinenstrichs und dass es da nicht weiter geht. Er erklärt, dass er eben wegen des Neuschnees keine Schneeschuhe benutzt – die hat er am Rucksack – sondern sich tiefe Tritte bis in die unteren Schichten macht, um guten Halt zu finden. Und dass er den Schlitten ein Stück weiter unten gelassen hat und nachholen wird. Rucksack und Schlitten zusammen seien zuviel – und das glaube ich sofort. Ich hätte auch ohne Rucksack keine Chance, den Schlitten zu halten, der beim Queren ja ständig seitlich nach unten zieht. Ich betone nochmal, dass das Gelände weiter oben äußerst heikel ist und beschreibe ausführlich die Steilheit und Haltlosigkeit des Lawinenstrichs – und dass nicht sicher einsehbar ist, was danach kommt. Er geht trotzdem weiter, meint noch, dass er es heute sowieso nicht mehr bis zur Hütte schafft – klar, er geht die Strecke ja dreimal, außerdem dauert es seine Zeit, feste Tritte in den Schnee zu machen. Ich gehe weiter, komme am verlassenen Schlitten vorbei und bin irgendwie doch auch neidisch – der Schneewanderer wird in dieser fantastischen Vollmondnacht biwakieren, das würde ich auch gerne.

Ich komme zügig voran, geht ja auch bergab, und stehe schließlich an dem supersteilen Hang im Wald, den ich im Zickzack rauf bin mit dem Bäumchen als Hochzieh-Hilfe. Unten ist ganz gut Platz, also wähle ich die schnelle Methode, setze mich in den Schnee und ab geht die Post – einen kontrollierten Abstieg würde ich da sowieso nicht schaffen. Ich kriege ganz ordentlich Schnee in den hinteren Hosenbund, aber der ist eh schon nass von den vorherigen unfreiwilligen Abfahrten. Nun kommt noch der höchst unangenehme erste Hang bis zur Staumauer. Dem weiche ich aus – ich finde, ich habe mein Glück heute schon etwas strapaziert – und steige bis zum Seeufer ab. Das ist auch steil und rutschig, aber im Falle des Fallens ist die Strecke und somit das Momentum geringer. Ich falle nicht sondern erreiche die Staumauer unbeschadet, lasse dann den Rucksack dort und gehe nochmal zurück, weil ich ganz hinten am Uferrand meine rote Trinkflasche im Schnee liegen sehe. Dann spaziere ich auf der Staumauer entlang und mache an ihrem Ende in der Nachmittagssonne noch ein Essenspäuschen. Unwillkürlich schaue ich dabei immer wieder nach oben zu dem Gelände, in welchem ich herumgestiegen bin, und halte Ausschau nach dem Schlittenmann. Ich vermute, dass er sich tatsächlich an dem Lawinenstrich versuchen wird, sehe ihn aber nicht – das ist ja alles auch schon wieder ein ganzes Stück entfernt.

Schließlich gehe ich zu den Kallbrunn-Almen zurück. Die letzten Sonnenstrahlen modellieren die Wellen der Almwiesen in einem Spiel aus Licht und blauen Schatten. Ich fotografiere ein wenig herum.

Die Sonne versinkt, der Himmel hinter dem Großen Hundstod färbt sich rosa, die Berggipfel reflektieren die Farbe. Auch die Schneefläche der Almwiesen bekommt einen rosa Schimmer. Als der Himmel verblasst, setze ich meinen Weg fort, mich immer wieder nach dem Seehorn umsehend, dessen Gipfel noch einen letzten Widerschein hat. Fast hoffe ich, den Mond aufgehen zu sehen, aber da ist das Seehorn dazwischen…

Als ich endlich oberhalb von Pürzelbach aus dem Wald trete, hat der Mond die Leoganger Steinberge bereits in sein Licht getaucht. Normalerweise begeistert mich das – aber heute überwiegt doch die Enttäuschung – wie gerne wäre ich jetzt oben im Steinernen Meer!

Aber es kommt ja noch der April-Vollmond…