Ich wollte mal wieder den Kaunersteig gehen. Der war ja einige Jahre gesperrt, nachdem ihn eine Mure teilweise mit nach unten genommen hatte und er in dem Bereich verlegt werden musste. Ich mag den Kaunersteig, aber während ich mit dem Boot über den See schipperte überlegte ich, dass mir diese Tour für das nun doch wirklich gut gemeldete Wetter zu kurz wäre. Also lieber über die Röthwand zur Wasseralm und dann über das Landtal. Dann wäre ich trotzdem rechtzeitig wieder unten für die 70% Regenwahrscheinlichkeit, die für abends gemeldet waren.
Der Obersee lag spiegelglatt in der Morgensonne und leuchtete in strahlendstem Türkis, wundervoll. Ich weiß nicht, wie oft ich den schon fotografiert habe, ich komme nie ganz ohne Foto daran vorbei.
Bis zum Beginn des Röthsteigs in der Fischunkel waren einige andere Wanderer unterwegs, auf dem Steig begegneten mir zwei, drei Grüppchen im Abstieg, sonst war ich alleine in der Bergstille. Ich kam oben im Wald an der ehemaligen Sonntagalm vorbei, ein idyllisches Fleckchen, auch wenn dort viele Bäume dem Borkenkäfer zum Opfer gefallen und umgestürzt sind. Gleich dahinter sprudelt der Röthbach in mehreren Armen durch den üppig grünen Bergwald herunter, bis er später als Röthbachfall über 400 Meter in den Kessel der Fischunkel stürzt.
Der Weg folgt ihm ein Stück weit bachaufwärts, bis das Bachbett plötzlich trocken fällt – das Wasser sucht sich unterirdisch im Karst seinen Weg. Ich ging weiter bis zur Almwiese und hinunter zur Gumpe, an der ich wie meistens Mittagspause machen wollte. Im Kraut sah ich eine große, tiefschwarze Raupe mit orangen Flecken. Ich dachte erst an den Apollofalter, fand aber später heraus, dass es die Raupe des Kräutermönchs war, eines seltenen Nachtfalters.
Für ein Bad in der Gumpe war es mir nicht heiß genug – das Wasser ist saukalt und der felsige Boden da drin glitschig, man kommt gar nicht so eilig wieder raus, wie man das möchte. Ich beließ es bei einer Gesichtswaschung, die machte auch frisch.
Eine Wasseramsel war rund um die Gumpe auf der Jagd und saß immer wieder knicksend auf ein paar dürren Ästen am Rand. Süß, das eifrige Kerlchen.
Direkt vor mir bildete das Wasser an dem Felsen, auf dem ich saß, kleine Wirbel, die runde schwarze Schatten warfen mit einem hellen Rand, wie kleine Sonnen-Coronas.
Ich hatte mir inzwischen überlegt, den strahlend schönen Tag zu nutzen, mir die Schabaualm und die Neuhüttenalm anzusehen. Beide liegen am Steig auf die Teufelshörner und sind längst nicht mehr bewirtschaftet. Die Besonderheit ist, dass in diesem Gebiet unter den Nazis die Ahnen der Berchtesgadener Steinbock-Kolonie angesiedelt wurden. Hermann Göring als Reichsjägermeister fasste 1935 den Beschluss dazu. Damit die importierten Tiere überleben konnten, mussten sie über mehrere Jahre an die Bedingungen der neuen Umgebung gewöhnt werden. Dazu wurde im Bereich der Schabau- und Neuhüttenalm ein großes Gehege errichtet. Zum Transport der Tiere und deren Winterfutter in die Röth wurde eine Materialseilbahn aus der Fischunkel herauf gebaut. Den Sockel sieht man heute noch, ebenso oben am Steig zwei Schwungräder und halb verrottete Balken. Die Tiere wurden in Kisten per Landauer über den Königssee und den Obersee gerudert, dann mit der Seilbahn luftig nach oben transportiert und in den Kisten zum Gehege getragen. Das war keine beneidenswerte Aufgabe, denn das Gelände ist steil und anspruchsvoll und so ein Steinbock ganz schön kompakt. Die Tiere wurden 1944 in die Freiheit entlassen, nachdem ihre Versorgung in den Kriegsjahren immer schwieriger geworden war. Das Drahtgeflecht des Gehegezaunes wurde verkauft, der Futterstadel auf der Neuhüttenalm verfiel.
Ich beendete meine Pause an der Gumpe, ging zur Quelle oberhalb der Diensthütte und füllte meine Flaschen auf. (Das Wasser am Brunnen der Wasseralm ist das gleiche – ich mag aber diese frisch sprudelnde Quelle so gerne) Dann wanderte ich an der Wasseralm vorbei und bog gleich dahinter ab auf den Steig hinauf zu den Teufelshörnern. Der Bergwald ist hier wunderbar wildromantisch. Ich kam an die Wiese der Schabaualm. Eine Libelle flog ihren Zickzackkurs über einer kleinen trüben Lacke. In der Mitte der Wiese erkannte ich die Stelle, an der die Almhütte gestanden hatte. Oft wachsen dort, wo die Holzbalken verrotteten, junge Fichten, so auch hier. Ich ging weiter und über die gleich darauf folgende Wiese mit dem interessanten Namen Hennenloch – wo der wohl herkam? – und erreichte die Neuhüttenalm.
Ich schaute mich gründlich um und entdeckte einige verrostete dicke Drahtstücke, die halb in der Erde versunken waren – Reste des Steinwildgeheges. Beim Verlassen der Almwiese fielen mir einige Steinbrocken auf, deren Anordnung auf ein ehemaliges Gebäude schließen ließ, vermutlich der Futterstadel.
Ich folgte dem Steig weiter durch den herrlichen Bergwald, der von zahlreichen Lacken, kleinen Rinnsalen und sumpfigen Stellen durchsetzt ist. Ein Stück weiter teilt sich der Pfad, die rechte Abzweigung führt zum Kleinen Teufelshorn. Ich folgte der linken. Gleich danach fand sich auf einer kleinen Wiese eine alte betonierte Zisterne und auf einer Anhöhe daneben die Grundmauern von Görings Jagdhütte. Muss recht stattlich gewesen sein und die Lage war durchaus privilegiert.
Hier befindet man sich nahe des südöstlichen Kopfes des Lehlingers, eines markanten schmalen, langgezogenen latschenbestandenen Felsrückens. Laut meiner Karte soll bei diesem Kopf ein Steigerl hinunter zur Oberen Röthalm führen, ich konnte aber nichts dergleichen erkennen und folgte dem Pfad weiter in Richtung Großes Teufelshorn. Der Alpenvereinsführer sagt, dass man kurz danach an eine auffallende Zirbe käme, in deren Nähe eine Steindaubenmarkierung in den Eisgraben ginge. Die Zirbe erkannte ich sofort – ein wunderschöner, vitaler Baum, aus dessen Krone sich über die Störung schimpfend ein Tannenhäher erhob. Erntezeit – um den Baum herum lagen etliche ausgepickte Zapfen. Mir war ganz schön heiß und ich setzte mich gerne in den Baumschatten und genoss die wunderbare Aussicht auf den Watzmann und eine Ecke des Königssees in der Ferne, auf die Südwände des Wildpalfen und das nahgelegene Kar zwischen Großem und Kleinem Teufelshorn, in dem eindrucksvoll große Felsblöcke wild verstreut lagen.
Nach meinem Päuschen folgte ich weiter dem Steig. Der Alpenvereinsführer bleibt sehr vage zum Beginn der Steindaubenmarkierungen, doch betrachtete ich mir das Gelände und kam zum Schluss, dass es ein gutes Stück weiter oben sein müsste und so war es auch. Ich sah die erste Steindaube am Rand einer felsigen Senke und ein Stück weiter die nächste und stieg dorthin. Die Steindauben ließen sich gut verfolgen bis hinunter in den Eisgraben. Und dort stand ich dann und schaute aufwärts in Richtung Eisgrabenscharte. Die Scharte oder vielmehr der Blick hinunter ins Blühnbachtal und zur Übergossenen Alm hätte mich ja schon sehr interessiert. Hm. Am Himmel hatten sich ein paar leichte weiße Wölkchen gebildet, sonst war er strahlend. Das würde vermutlich nicht ewig halten, aber ewig würde ich auch nicht brauchen, wenn ich zumindest mal bis aufs erste Geröllfeld stiege, das sich von der Wand des Teufelshorns herunter zog. Von dort hätte ich bestimmt einen guten Blick den Eisgraben hinauf.
Ich mühte mich also den steilen Hang hoch, neben mir die gewaltige Felswand, die sich immer weiter den Graben hinauf zog, und von ihr herunter reichend diverse Reißen und einige Altschneefelder. Das war schon ein ganz schönes Stück unwegsames Gelände bis hinauf zur Scharte, die ich von da aus mehr ahnen als sehen konnte. Aber nun war ich schon da – und wann würde ich wohl wieder einmal in diese abgelegene Ecke kommen? Das gab den Ausschlag – und ich begann, die verschiedenen Geröllfelder zu überqueren den Eisgraben hinauf.
Einmal fand sich eine einsame große Steindaube, dann sah ich vor mir im Geröll den etwas zerkratzten heugrünen Becher einer Thermosflasche. Beides Zeugnisse der Großen Reibe, die als Skitour im Winter hier durch führt. Die Natur braucht unseren Kunststoff nicht, also packte ich den Becher ein.
Ich erreichte schließlich die Scharte, die mir ein grasiges Plätzchen an einem Felsen bot, um es mir gemütlich zu machen. Und einen überwältigenden Ausblick ins Blühnbachtal, auf den Hochkönig und die Übergossene Alm, die hier zum Greifen nahe schienen in ihrer ganzen Mächtigkeit, flankiert von der ebenfalls mächtigen Wand des östlichen Ausläufers des Teufelshorns neben mir. Ich hatte mein kleines Fernglas dabei und schaute, futterte ein bisschen was und schnupperte an ein paar der zahlreichen schwarzen Kohlröschen, die im Gras um mich herum wuchsen. Dunkle Schokolade.
Mein Handy rührte sich, hier war der Luftlinienkontakt zur Zivilisation mit ihren Handymasten gegeben und es trudelten einige Nachrichten ein. Ich meinerseits tat einer Freundin kund, wo ich steckte – ist ja nie verkehrt, wenn das jemand weiß.
Schließlich riss ich mich los, der Rückweg würde ja schon ein gutes Weilchen in Anspruch nehmen und die Wolken waren auch mehr geworden und hatten einen Grauschleier angenommen.
Bergab geht natürlich schneller, und so dauerte es nicht lange und ich hatte den karstig-gerölligen Teil des Eisgrabens hinter mir. Eine kleine klare Quelle entsprang und verschwand drei Meter weiter in einem Schluckloch. Ich stieg weiter ab, nun steiler, latschendurchsetzt, da musste ich schon schauen, wo’s am besten ging und das bremste natürlich. Ich kam an einem beeindruckenden Schacht vorbei und ein paar Meter weiter an einem ebenfalls tiefen Loch unter einem Felsüberhang, aus dem es leise rauschte – da floss in der Tiefe mein Quellbächlein. Der Karst ist doch faszinierend.
Nun wurde es ziemlich mühsam. Gras und die riesigen Blätter des Alpendost verdeckten zunehmend den Boden, so dass ich nie sah, wohin ich meinen Fuß setzte – Stolpersteine gab es bei jedem Schritt. Außderdem mischten sich unauffällig Brennesseln darunter, wie gemein. Es zog sich, die Stufen waren steil, das ging in die Knie, und es nahm kein Ende. Ich kontrollierte zwischendurch immer am Handy, ob ich noch in die richtige Richtung ging – zur Oberen Röthalm. Ja, das stimmte.
Ich war glücklich, als ich auf den ersten Hirschpfad stieß – endlich mal ein paar Meter einfach gehen und sehen, was man vor sich hat. Das war aber nicht von Dauer, dann gab es plötzlich mehrere Hirschpfade, dann sah ich gar keine Spur mehr, dann doch wieder, dann wurde der Untergrund sumpfig, dann wieder völlig überwuchert von Alpendost und ich stolperte zwischen den unsichtbaren rutschigen Steinen dahin, es ging steil hinunter, dann eine Felswand entlang, meine Knie begannen zu jammern, vor allem das rechte, auf das ich vor ein paar Wochen gestürzt war. Ich sah durch die Bäume eine glatte Felswand, an deren Kante hoch oben eine prächtige große Fichte stand, bei deren Stammfuß einige nasse dunkle Streifen die Wand hinunter liefen. Die war mir im Abstieg vom Wildpalfen mit Rainer vor ein paar Jahren schon aufgefallen, da war ich nun also immerhin richtig. Erwischte aber beim Weiterstolpern – mit kurzem Abstecher bergauf, um die streifige Wand besser fotografieren zu können – dann doch den falschen Hirschen und kam jedenfalls nicht zu der kleinen Wiese der ehemaligen Röthalm sondern wiederum kreuz und quer durch den Bergwald. Ein Hirsch beschwerte sich ein Stück entfernt über meine Störung und ich war ganz froh, dieses Gebrumm eindeutig einem Tier zuordnen zu können, das den Menschen nicht als Abendessen betrachtet. Eine Hirschkuh mit roter Ohrmarke floh drei Meter vor mir aus dem Gebüsch – wie kann man in dem Gelände rennen? – die hatte eh schon schlechte Erfahrungen mit uns gemacht. Ich hatte ein schlechtes Gewissen – immerhin polterte ich da durch den Nationalpark, dessen Wege man nicht verlassen soll, und gleichzeitig hatte ich ziemlich die Schnauze voll von dem Gestolpere im Ungewissen. Ich bin ja nicht eine der ganz Handyaffinen, aber in diesem Fall war der Blick auf die Alpenvereinsapp äußerst hilfreich.
Endlich erreichte ich dann doch den richtigen ehemaligen Röthalmsteig (der sich bergauf dann halt in all den Hirschpfaden auflöst) und folgte diesem unschwierig zum Wanderweg zwischen Wasseralm und Landtal. Das war nun das zweitemal, dass es in diesem Gebiet mit der Wegfindung haperte, das erstemal war bergauf mit Rainer gewesen, als wir über den Eisgraben auf den Wildpalfen gingen. Da hatten uns auch diverse Hirschspuren in die Irre geführt, bis wir, auch dank Handy, doch irgendwann zu der streifigen Felswand gefunden hatten. Ich hatte ziemlich genug, meine Knie jammerten noch mehr und ich beschloss, dass die Röthalm mich in Zukunft mal konnte.
Ich folgte zügig dem Steig – ein richtiger Steig, wie schön!
Zwischen dem Wildtörl und der Abzweigung hinunter nach Salet habe ich im letzten Sommer direkt am Weg ein kräftig gewachsenes blühendes Edelweiß entdeckt. Ich sah es auch diesmal – die Blüten allerdings braun und zertreten von den Wanderern, die dieses besondere Kleinod übersehen haben.
Ich näherte mich der Abzweigung – und hörte plötzlich Donner. Ach nee, oder?? Die Sonne war schon lange verschwunden, der Himmel von grauen Wolken überzogen und ich hatte damit gerechnet, irgendwann nass zu werden – aber auf ein Gewitter konnte ich definitiv verzichten und danach hatte es auch nicht ausgesehen. Ich kam an der Abzweigung vorbei, es donnerte nochmal, und dann noch mehrmals – das kam! Ich überlegte meine Optionen. Hinunter in die Fischunkel und zur Almhütte flüchten – das würde ich nicht schaffen, und bei Gewitter mitten in der Röthwand – besten Dank. Außerdem müsste ich dann anschließend den alten Viehtriebsteig am Ostufer des Königssees gehen und der ist bei Nässe und dann auch Dunkelheit wirklich kein Spaß. Übers Landtal zur Regenalm – zweieinhalb Stunden, auch nicht zu schaffen. Übers Landtal und Hochgschirr zur kleinen Bergwachthütte am Seeleinsee – drei Stunden, vergiss es. Und bei Gewitter völlig ungeschützt das Landtal hochgehen – ein Alptraum. Also Plan A, B und C schonmal nichts, aber um mich herum im Wald gab es zahlreiche Felsen und ich beschloss, nach dem bestmöglichen Unterschlupf zu suchen. Es war ungefähr halb 8, es würde sowieso eine lange Nachtwanderung werden, da konnte ich auch das Gewitter aussitzen.
Ich verließ also den Steig, überstieg einige umgestürzte Käferbäume, kam an verschiedene Felsen ohne Überhang und dann tatsächlich an einen, der so weit und gerade überhing, dass darunter nicht einmal Moos wuchs – ein Zeichen dafür, dass es auch bei heftigem Regen kein Tropfwasser gab. Der Platz war nicht üppig bemessen aber für mich und den Rucksack gerade gut, ich konnte kauern, sitzen oder liegen. Ich trank erstmal was, hängte das Handy an die Powerbank, zog mir das T-Shirt übers Shirt und die Regenjacke darüber – Gewitter gehen mit Abkühlung und Wind einher. Es dauerte dann auch nur ein paar Minuten, bis ein lautes Rauschen näher kam und sich satter Regen ergoss. Es war kein heftiges Gewitter, es gab keinen Sturm – der mich unter meinem Felsen aber auch nicht geschreckt hätte – wären auch noch so viele Äste herunter gekommen, ich war sicher. Es krachte mehrmals gewaltig, der Röthkessel bietet eine gute Akkustik. Ich hatte mir Ohropax in die Ohren gestopft, die habe ich immer im Notfalltäschchen für eventuelle Hüttenübernachtungen. Ich hörte das Krachen also etwas gedämpft, was meinem Gemüt ganz zupass kam, ich habe im Freien durchaus Angst bei Gewitter. Was war ich froh und dankbar für diesen Felsen! Ich fühlte mich wunderbar beschützt. Zum einen war es schon ein Zufall, dass es diesen Felsen mit dem perfekten Überhang gab, und zum anderen ein noch größerer Zufall, dass ich ihn innerhalb von drei Minuten entdeckt hatte. Ohne wäre die Situation eine ganz andere.
Ich saß bzw lag ungefähr eineinhalb Stunden unter dem Felsen, zog mir zwischendurch was Langärmeliges unter die Regenjacke, es wurde ganz schön kühl und ich hatte ja geschwitzt. Besonders kuschelig war es trotzdem nicht, eine kurze Hose bleibt eine kurze Hose, aber es ging. Hätte zur Not noch einen Pullover gehabt, der diente mir im Rucksack als Kopfkissen. Dieses Erlebnis erinnerte mich aber daran, dass ich die Rettungsdecke im neuen Rucksack nicht mehr standardmäßig dabei habe.
Schließlich hatten sich Blitz und Donner komplett verzogen, nur der Regen rauschte munter und satt weiter. Ich zog das Langärmelige aus, die Regenjacke wieder an, verpackte den Rucksack in der Regenhülle und verließ den gastlichen Felsen. Guter Felsen. Es war inzwischen dunkel, ich ging mit Stirnlampe. Den Steig fand ich ohne Mühe und folgte ihm bergauf. Ein kleines Rinnsal plätscherte fröhlich hinunter, immer wieder machten sich große Pfützen breit. Ein dicker Grasfrosch machte mit einem großen Satz auf sich aufmerksam – na wenigstens einer, dem das Wetter gefiel.
Der Steig wand sich in Serpentinen hinauf zur ehemaligen Landtalalm. Die ist sonst eines meiner Lieblingsplätzchen, diesmal nahm ich sie zur Kenntnis und war auch schon daran vorbei. Weitere Frösche in allen Größen hüpften, tiefschwarz glänzende Alpensalamander saßen im Licht der Stirnlampe erstarrt auf dem Weg. Ich begann sie zu zählen. Ich hatte ja sonst geistig nichts zu tun, die Beine ächzten Serpentine um Serpentine bergauf, denen war das Lachen vergangen, zu sehen gab es ringsum in der strömenden Dunkelheit nichts.
Ich liebe das Landtal ja – aber vor allem, wenn ich von oben komme. Es ist wunderschön und die mächtigen Wände auf beiden Seiten bilden einen fantastischen Rahmen für den Blick über die Röth ins Steinerne Meer. Meistens gehe ich das Landtal aber hinauf und habe dann stets schon eine gewisse Tour hinter mir, und es zieht sich und zieht sich und das natürlich besonders bei Dunkelheit. Ich konzentrierte mich auf die Salamander und hatte bald die Hundert überschritten. Je näher ich dem Hochgschirr kam, desto windiger wurde es, da oben pfeift es ja gerne. Aber der Regen ließ nach, das war erfreulich. Als ich das Hochgschirr erreichte, war ich bei 213 Alpensalamandern, das ist stattlich. Ich machte mich auf der anderen Seite auf den Abstieg. Alles rutschig, besonders dann im Stiergraben, da hieß es aufpassen und konzentrieren, zumal ohne Stöcke. Immerhin hörte der Regen auf und ich kam unter meiner Kapuze hervor. Es dauerte nicht lange, und die Knie beschwerten sich erneut, aber das half nichts. Auch der Stiergraben zieht sich gefühlt endlos, und auch das umso mehr, wenn man nichts von der Umgebung sieht.
Schließlich hörte ich Kuhglocken und erreichte kurz darauf die erste Almwiese, dann den Abwärtsgraben und dann die großen Wiesenhänge der Priesbergalm. Ich hatte einen Stein im Schuh, endlos Durst und Kreuzschmerzen vom ständigen konzentriert nach unten Gestarre und schwenkte bei der ersten Almhütte zu einer Pause ein. Alle Bänke waren nass, auch die direkt an der Hüttenwand. Soviel zum Thema Unterstellmöglichkeit. Ich breitete meine Regenjacke auf die Bank, füllte Wasser aus dem Brunnen in meine Flasche, trank und legte mich dann erstmal ein paar Minuten entspannt auf die Bank. Das tat wirklich gut und die Kreuzschmerzen verflüchtigten sich. Ich hatte noch ein Schinkenbrot und eine Aprikose, das holte ich beides heraus und verputzte es ruckzuck. Ich schüttelte den Stein aus dem Schuh. Ein unangenehmer Luftzug kam vom Berg und ich fröstelte.
Ich machte mich wieder auf den Weg, es dürfte gegen 01.00 Uhr gewesen sein. Der Mond erschien als verschwommener Ball hinter den Wolken, gerade hell genug, dass ich auf der weiß gekiesten Forststraße ohne Stirnlampe gehen konnte. Ich kam an der Enzianbrennhütte vorbei, dann an den Königsbachalmen, dann zur Hochbahn. Ab da brauchte ich die Lampe wieder, der Hochbahnweg ist ziemlich dunkel. Auch der zog sich gefühlt endlos, bis ich die ersten Häuser erreichte. Der Mond war inzwischen aus den Wolken hervor gekommen und stand prall und hell am Himmel. Über See und Dorf lag eine langgestreckte Nebelbank, vom Mond magisch beleuchtet, wunderschön. Die Häuser lagen dunkel, die Straßenbeleuchtung war aus, hier und da sprang ein Bewegungsmelder an. Eine griffige Teerstraße, auf der man einfach so bergab schlendert, ist nach einer langen Tour gar nicht so schlecht. Ich schlenderte und schlenderte, hörte Stimmen und sah Licht – eine Backstube. Krasse Arbeitszeiten, daran denkt man gar nicht, wenn man morgens genüsslich in die Semmel beißt. Ich erreichte das Auto, es war drei Uhr. Ein Rekord, den ich weder zu brechen noch zu wiederholen gedenke – das war insgesamt doch ein bisschen too much. Ich ließ mich erleichtert in den weichen Autositz fallen, genug gelaufen. Meine tastenden Hände fanden in der Ablage über Kopf die Tüte mit den getrockneten Mangostreifen – sauer und aromatisch, wunderbar, genau, was ich nun brauchte. In der Thermos im Korb war noch kalt gewordener Milchkaffee, auch willkommen. Ich fuhr nach Hause, hielt aber am Thumsee bei Reichenhall für ein kurzes Säuberungsbad. Der ist nicht so saukalt wie der Königssee und vom Auto zum Wasser waren es auch nur drei Meter. Zuhause erst noch duschen, darauf verspürte ich keine Lust, zumal das Wasser immer ewig braucht, bis es warm wird.
Frisch gebadet und in frischer Kleidung fuhr ich nach Hause. Dort war alles trocken – es hatte kein Gewitter gegeben. Ich ließ mich gegen halb fünf ins Bett fallen – im Osten breitete sich gerade die Morgendämmerung aus.